Besuch eines virtuosen Chopin-Interpreten
NZZ am Sonntag, 9.November 2003
Vor 3 Jahren erschien Boris Spasskis beachtetes CD-Début mit Tschaikowskys Jahreszeiten, einem Zyklus, der im Westen meist nur in Recitals russischer Pianisten zu hören ist.
Mit dieser neuen Einspielung nun begibt sich der junge, seit einigen Jahren in der Schweiz lebende Russe ins Auge des Hurrikans. Durch die harte russische Schule gegangen, verfügt Spasski über das technische Können, das Gegen- und Ineinander dramatischer und lyrischer Elemente, das diese Werkgruppen in so hohem Masse kennzeichnet, musikalisch zu gestalten. Spasski ist kein Pianist, der seine Virtuosität ausstellt oder gar als Selbstzweck pflegt.
So wirkt in der F-dur-Ballade der Sturm, der die einleitende pastorale Idylle hinwegfegt, eher gebändigt als bedrohlich, und auch die Läufe und Steigerungen des Scherzos in h-Moll sind in ihrem virtuosen Glanz zurückgenommen, die innige liedhafte Passage in der Dur-Tonika setzt sich daher weniger scharf von der Turbulenz des Stücks ab. In der Schluss-Stretta der As-Dur-Ballade bleibt der Hörer nach dem wunderbar weichen Erzählton von Mickiewicz‘ Undinenwelt etwas auf seinem dramatischen Hunger sitzen. Das heisst nun nicht, dass der Pianist die Kontraste einebnen würde; vielmehr bewundert man seinen Formwillen, wohlfeile Effekte zugunsten der strukturellen Geschlossenheit zu meiden.
Ein Pianist und Musiker, auf den zu achten ist.
Franz Cavigelli
„Im Wirbel des „Mephisto-Walzers“
Zum Auftritt von Boris Spasski
Im Moskauer Museum für Zeigenössische Geschichte ist ein weiterer Konzertsaal eröffnet worden, als Geschenk an die angehenden Musiker. Er wird von diesen auch bereits intensiv
benutzt.
Trotz grosser Sommerhitze hat das Konzert des Pianisten Boris Spasski viele Besucher angelockt. Der junge Musiker hat vor kurzem sein Studium an der Russischen Musikakademie „Gnessins“ bei Prof Oleg Boschnjakowitsch abgeschlossen. Mit seiner Begabung, sich in die ursprüngliche Idee eines Musikstückes einzufühlen und es dank seiner Virtuosität in bildhafter Art vorzutragen, konnte Spasski in kurzer Zeit die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich lenken.
Der Pianist hat ein sehr anspruchsvolles Programm gewählt. Es genügt, die überaus stürmische Tokkata Prokofiews und den Mephisto-Walzer von Liszt zu erwähnen. Letzterer ist eines der technisch anspruchvollsten Klavierwerke Liszts. Ich habe beim Mephisto-Walzer im Klang eine tiefe, verströmende Inspiration gefühlt. Gleichzeitig beeindruckte mich bei einem angehenden Musiker, neben aller Leidenschaftlichkeit des musikalischen Ausdrucks, das Beherrschen der Gesetze der Kulmination und die Fähigkeit alle Détails der einheitlichen Entwicklungslinie unterzuordnen und so zu einem künstlerischen Höhepunkt zu gelangen. Verwegene Vergleiche, Kontraste der Klangfarben, herausfordernd grobe Züge, aquarellartige Durchsichtigkeit der Farben, schwebende, kaum erfassbare Abtönungen der Klänge und die lauterste, rezitativartige, fast aus dem Alltagsgespräch herausgegriffene Phrase. Spasski spielt nicht nur Liszts Musik, sondern erzählt, führt theatralische Szenen aus dem Leben vor, malt lebensnahe Bilder.
Auf dem Programm stand auch Mozarts Musik. Die 6.Sonate (KV 284) hat der Pianist im Unterschied zum Ueblichen zurückhaltend, weise und gewichtig gespielt. Bei den Modernen spielte Spasski nebst der Tokkata Prokofiews Stücke von Schönberg und Cage. Dennoch ist mir gerade der Mephisto-Walzer in Erinnerung geblieben. Bereits tausendmal in verschiedensten Interpretationen gehört, entdeckten wir hier eine eigene, in ihrer Glaubwürdigkeit völlig unbestreitbare Interpretation von Liszt. Es gab keine Noten, sondern eine magische Musik, von der man sich nie trennen möchte.
Mariam Ignatjewa